Hypnotische Motive, pulsierende Formen und flimmernde Muster: Der Meister der optischen Täuschung stellt das Sehen auf die Probe.
Victor Vasarelys vielschichtiges Werk ist heute aktueller denn je: Es hat die Ästhetik der Computerspiele vorweggenommen, indem es sich visueller Effekte bedient, wie sie heutzutage von Computern generiert werden. Die kräftigen Farben seiner streng geometrischen Muster, aber auch die starken Kontraste seiner Schwarz-Weiß-Malerei sind noch immer Bestandteil ästhetischer Gestaltung.
Techniken zur Vervielfältigung und der Einsatz seiner Ideen im Alltag haben dazu geführt, dass seine Kunst schließlich überall präsent ist. Bis heute prägen sie das Bewusstsein eines jeden. 1972 ist Victor Vasarely auf dem Höhepunkt seines Schaffens angelangt. Immer häufiger wird er beauftragt, Architektur und Innenräume zu gestalten.
Ausdrucksstarke Innenarchitektur oder raumgreifendes Op-Art-Werk? Victor Vasarely bringt die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst zum Verschwinden. Seine Konzepte greifen medizinische und mathematische Erkenntnisse der Wahrnehmung auf. Vasarely erforscht sie umfassend in der Kunst: Seine Wand- und Deckenstrukturen scheinen den Raum in Vibration zu versetzen, sobald ihn der Betrachter durchschreitet. Der aus Ungarn stammende französische Begründer der Op-Art ist ein Jahrhundertkünstler. Er bewegt sich zwischen den verschiedenen Stilen der Zwischenkriegszeit und der Nachkriegsmoderne. Seine künstlerischen Wurzeln liegen in der Auseinandersetzung mit der frühen Moderne.
Vasarely schöpft u. a. aus den Theorien des Bauhauses, des Suprematismus und der geometrischen Abstraktion. Später sind es technoide und psychedelisch bunte Bilder, die durch optische Effekte in den Raum drängen. Dabei zielen sie auf die Irritation der Sinne und die Täuschung der Wahrnehmung. Vasarelys auf geometrischen Grundformen basierende Strukturen verwenden die knalligen Farben der Pop Art. Die Bilder stehen stellvertretend für eine zukunftsgläubige Gesellschaft im Aufbruch. Sie prägen das schillernde Erscheinungsbild der Moderne der 1960er- und 1970er-Jahre, sie sind ebenso Teil der künstlerischen Avantgarde wie der Populärkultur.
Vasarelys
Wurzeln
Kunst, Leben und Handwerk miteinander verbinden – so lautet der Grundgedanke des Weimarer Bauhaus. Er wird auch zu Victor Vasarelys Leitsatz.
Im Alter von 23 Jahren hat der Ungar Victor Vasarely bereits einen Abschluss in Wirtschaftskommunikation vorzuweisen und begonnen, Ökonomie und Werbung zu studieren. In einem medizinischen Labor in Budapest ist er als Buchhalter und Grafiker tätig, besucht zudem Vorlesungen an der medizinischen Fakultät. Während einer zweijährigen Ausbildung an einer privaten Kunstakademie erlernt er das präzise Zeichnen. Nebenbei verdient er sich seinen Unterhalt als Werbegrafiker.
Ab 1929 besucht Vasarely schließlich das Budapester Műhely (ungar., Werkstatt, Atelier) und lernt dort die aktuellen Tendenzen der internationalen Kunst kennen. Sándor Bortnyik gründet diese Privatschule für Werbedesign nach Vorbild des Weimarer Bauhauses. Dessen Aktivitäten verfolgt er während eines mehrjährigen Aufenthalts in Weimar. Gut vernetzt, verkehrt er dort in den Kreisen des De-Stijl-Mitbegründers Theo van Doesburg. Seine Erkenntnisse gibt Bortnyik an seine Schüler weiter.
Reform, Aufbruch und eine gesellschaftliche Vision: Die Lehren am Műhely zielen auf das Einwirken der Kunst auf den Alltag ab. Auch für die Konzepte von Bauhaus und De Stijl sind soziale Utopien maßgeblich. Die Gestaltung des Lebensraums soll dem modernen Menschen zugutekommen.
Einfache Formen und klare Farben prägen den Stil. In zahlreichen Studien wird deren Zusammenspiel und Wirkung immer wieder von Neuem ausgelotet.
Victor Vasarely verinnerlicht die Ideen des Bauhaus und der Drang nach Veränderungen wächst. Aufgrund der politischen Lage in Ungarn verlässt er 1930 seine Heimat und geht nach Paris. Dort arbeitet er zunächst äußerst erfolgreich als Werbegrafiker.
Experimente auf Papier
Tagsüber Werbegrafiker, nachts Künstler: Den Erfahrungen, die Vasarely in seinem Beruf macht, geht er auch in der Malerei nach.
Mit optischen Effekten gezielt auf den Betrachter einzuwirken, ist Vasarelys tagtäglicher Beruf. Er erkennt, wie die Wahrnehmung auf Muster und Strukturen reagiert, die sich verzerren und verändern, und welchen Effekt Hell-dunkel-Kontraste auf den Betrachter haben. Das Ausloten von Formen und Farbe, Linien und Flächen fasziniert ihn. Und so erforscht er die Zusammenhänge auch in seiner Malerei weiter.
Während dieser Zeit unterwarf ich alle plastischen Probleme, die mir in den Sinn kamen – Komposition, Farbe, Licht und Schatten, Materie, Zwei- und Dreidimensionalität – einer genauen Untersuchung.
Jean-Louis Ferrier, Gespräche mit Victor Vasarely Spiegelschrift 8, Köln 1971, S. 23
Markante Muster und starke Kontraste stimulieren Victor Vasarelys Interesse. Das Fell des Zebras reizt ihn daher auch über Jahre hinweg immer wieder. Es eignet sich als künstlerisches Experimentierfeld.
In seiner Wahlheimat Paris bewegt sich Vasarely im Zentrum der künstlerischen Moderne. Die Vertreter der sogenannten Avantgarden in Moskau, Berlin, Paris und Wien stehen in regem künstlerischem Austausch. Es sind ganz unterschiedlich ausgeprägte Stile, die die Aufgaben der Kunst neu definieren und die auf den jungen Künstler einwirken.
Hinter den Gittern sitzt ein Häftling in seiner Zelle. Wie seine Zeitgenossen, die Kubisten, Futuristen und Surrealisten, experimentiert Vasarely mit figürlichen Darstellungen. Doch treten die Strukturen und Muster im Gemälde viel deutlicher hervor als das eigentliche Bildmotiv. Das Geflecht aus dunklen Stäben und Schatten auf dem hellen Körper entfaltet ein Eigenleben.
Vasarely lässt sein Selbstporträt zersplittern. Wie durch Spiegelscherben blickt er nun gleich mehrfach aus dem Bild. Dekonstruktion und Bewegung sind Themen, denen sich auch schon die Futuristen gewidmet haben. Aus der Beschäftigung mit maßgebenden Stilrichtungen der frühen Moderne heraus entwickelt Vasarely ein eigenes optisches Vokabular.
Bewegtes Auge
Im Video lassen sich Bewegungen leicht darstellen. Doch wie können sie in einem statischen Gemälde abgebildet werden?
Vibrationen, Rotationen und Schwingungen auf die Leinwand zu bringen, ist die wichtigste Herausforderung, der Victor Vasarely sich stellt. Schon als Werbegrafiker beginnt er, sie mithilfe von Linien, Flächen und Volumen zu konstruieren.
Rhythmisch gleitet das Auge von einer Welle zur nächsten. In gleichmäßigen Abständen legen sich die Ringe um das Zentrum. Regelmäßig werden sie mal dicker, mal dünner. Der Eindruck von Bewegung entsteht. Sicher hat Vasarely dieses Phänomen an der Darstellung am meisten gereizt: Dennoch fügt er seiner Zeichnung durch die Wassertropfen und den Wal doch noch eine inhaltliche Bedeutung hinzu.
Reale Beobachtung
abstrakte Wirkung
Das Erleben und Beobachten seiner Umwelt stellt Vasarelys Verständnis von Kunst auf den Kopf: Er wendet sich von der gegenständlichen Malerei ab.
Die abstrakte Malerei arbeitet mit der Vereinfachung oder Umformung von realen Objekten. Diesen Prozess denkt Vasarely noch einen Schritt weiter: Die Wahrnehmung und der Sehprozess selbst werden immer häufiger zum Thema seiner Malerei.
Besondere Erlebnisse leiten diese drei Werkreihen ein, die Vasarely zeitgleich und doch ganz unterschiedlich in die Abstraktion führen. Elemente aus der Kunst dieser Zwischenkriegsjahre kehren in seinen späteren Werken immer wieder.
Steine und Ellipsen
Was passiert beim Sehen, wenn Formen Fehlstellen aufweisen oder sich überlagern? Im Küstenort Belle-Isle nimmt Vasarelys Forschung ihren Anfang.
Ich betrachtete die Formen, die Belle-Isle mir darbot und die sich alle auf Ellipsen und Ovoide zurückführen ließen, und entdeckte dabei eine ganz innige Verwandtschaft zwischen offenbar ganz verschiedenartigen Dingen. Am Morgen nahmen die Wolken die Form von Kieseln an, und wenige Meter vom Strand entfernt, da, wo das Meer schon tief war, glich die gegen die Felsen schlagende Brandung riesigen Muscheln. Auch die untergehende Sonne verformte sich und wurde elliptisch.
Jean-Louis Ferrier, Gespräche mit Victor Vasarely Spiegelschrift 8, Köln 1971, S. 15-16
Muscheln und Wellen, Sonne und Felsenküste: 1947 verbringt Victor Vasarely einige Sommerwochen im bretonischen Küstenort Belle-Île-en-Mer. Mit dem Skizzenblock zeichnet er im Freien und sammelt nebenbei Kieselsteine, Muscheln und Scherben. Die Wucht der Wellen hat sie mit der Zeit zu runden Formen poliert.
Die naturgegebene Geometrie fasziniert den Künstler. Er findet sie sowohl in jedem kleinen Sandkorn als auch in den Weiten des Universums. Doch wie können die puren Formen unverfälscht festgehalten werden? Vasarely lässt die gefundenen Objekte ohne weitere Bearbeitung in flüssigen Gips ein.
Dieses Experiment mit natürlichen Objekten überträgt Vasarely schließlich in die Malerei. Die Anordnung der einzelnen Formen und das Spiel mit den Farben rücken zunehmend in den Vordergrund. Über mehrere Jahre hinweg studiert er immer wieder die Wirkung unterschiedlicher Kombinationsmöglichkeiten. Es ergeben sich Momente, in denen sich Formen überlagern oder durchbrochen werden. Das Auge wird dabei herausgefordert: Beim Sehen startet ein unterbewusster Prozess, durch den die Flächen geordnet werden.
Risse und Linien
Liegen Figuren im Vordergrund, obwohl sie flächig gemalt wurden? Seinen Ausgangspunkt hat Vasarelys Wahrnehmungsexperiment jedoch in einem natürlich entstandenen Muster.
Eine alltägliche Begebenheit in den 1930er-Jahren wird zu einem prägenden Ereignis: Vasarely lebt als verheirateter Familienvater in einem Vorort von Paris. Auf dem Weg zu seinem Büro im Stadtzentrum muss er an der Metro-Station Denfert-Rochereau umsteigen:
Während ich auf meinen Anschlußzug wartete, ging ich auf dem fast leeren Bahnsteig auf und ab, und dabei bemerkte ich auf einmal die weißen Kacheln, mit denen die Mauern verkleidet waren und in denen ich ganz bizarre, feine Sprünge entdeckte. Manche davon waren vertikal und erschienen mir wie die Ruinen verschwundener großer Städte […]. Die horizontalen Linien aber erweckten in mir die Vorstellung von halluzinatorischen Landschaften…
Jean-Louis Ferrier, Gespräche mit Victor Vasarely Spiegelschrift 8, Köln 1971, S. 41
Ein Jahrzehnt später geben die Erinnerungen an die Kacheln der Metro-Station Vasarelys Kunst einen neuen Impuls. Er übersetzt die gesprungenen Linien in abstrakte Zeichnungen. Daraus entstehen große Gemälde aus farbigen Flächen.
Es scheint, als seien die Flächen hintereinandergestaffelt, als gäbe es einen Vorder- und Hintergrund. Die dunkle Farbe bildet offensichtlich den Hintergrund. Oder schiebt sie sich als eigenständige Form von oben ins Bild? Vasarely leitet den Blick in die Irre. Er spielt mit den Gesetzen des Sehens und der Wahrnehmung, wie sie in der Gestalttheorie formuliert worden sind.
Häuser und Formen
Liegen die Formen auf der zweidimensionalen Fläche oder bewegen sie sich im dreidimensionalen Raum? Das flirrende Sonnenlicht im Bergdorf Gordes lässt Victor Vasarely sogar am eigenen Sehen zweifeln.
Sommer 1948: Victor Vasarely bezieht in Gordes sein vorübergehendes Quartier. Am Berg reihen sich die mittelalterlichen Häuser und Türme neben- und übereinander. Im gleißenden Licht erblickt der Künstler einen besonderen Effekt: Die kubischen Formen der Gebäude und Dächer erscheinen in der Wahrnehmung nur noch als helle und dunkle Flächen. Sie verlieren ihre Dreidimensionalität.
Die Häuser sind für Vasarely Mittel zum Zweck. Er übersetzt seine eigenen Seherfahrungen in Flächen und Farben. Sie scheinen im Raum zu schweben, nehmen mal zweidimensionale, mal dreidimensionale Formen an. Hier liegen sie übereinander, dort nebeneinander.
Auf dieser Fläche entsteht ein räumliches Phänomen und verschwindet wieder: die Fläche ist also in dauernder Bewegung. […] Tragik und Triumph des Malers ist es seit je gewesen, das Unmögliche zu verwirklichen, mehr mit weniger zu geben, auf dieser einen Fläche mehr zu geben, als nur diese eine Fläche.
Vasarely, Einführende Worte von Marcel Joray Entwurf und Layout von Victor Vasarely, Éditions du Griffon Neuchatel, 1965, Bd. I, S. 32
Radikale
Reduktion
Form und Kontrast – das „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch ist die Ikone der frühen abstrakten Moderne. Es weist Victor Vasarely einen neuen Weg.
Bereits 1915 bricht der russische Künstler Kasimir Malewitsch mit der Tradition der Malerei: Er malt ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund. Die absolute Gegenstandslosigkeit wird erstmals zum Thema der Kunst.
Rund 40 Jahre später nimmt Vasarely das Prinzip des schwarzen Quadrats auf und entwickelt es in einem Gemälde weiter. In „Hommage à Malevich“ stehen sich zwei schwarze Quadrate und zwei lang gezogene Rauten gegenüber. Erst auf den zweiten Blick fallen die Unstimmigkeiten auf: Die Formen fügen sich nicht genau ineinander.
Vasarely rückt die Seherfahrung in den Mittelpunkt seiner Werke. Dazu benötigt er keine Farbe. Starke Kontraste genügen, um die optische Illusion zu erzeugen. Daher verwendet der Künstler in den folgenden Jahren ausschließlich Schwarz, Grau und Weiß. Auch das Quadrat dient immer wieder als funktionales Element im Spiel mit der Wahrnehmung.
Gekippt, um die eigene Achse gedreht und zur Raute verzerrt, verlassen die Quadrate in „Tlinko II“ das starre Muster. Unterbewusst startet der Versuch die einzelnen Formen im Gesamtgefüge zu sortieren. Der Blick wird dabei dynamisch durch das Bild geleitet.
Vergeblich wird der Betrachter darauf warten, dass sich die schwarzen Linien in „Fugue“ deckungsgleich übereinanderlegen. Die rhythmisch gesetzten, unterschiedlich breiten Linien flimmern vor dem weißen Hintergrund. Gleichzeitig ergänzt das Auge die unterbrochenen Linien zu Konturen. Ineinander verschachtelte Quadrate treten hervor.
Bewegung beginnt!
Bewegt sich der Betrachter, verändern sich die Motive! Mit optischen Täuschungen erklärt Vasarely die Wahrnehmung zum künstlerischen Experimentierfeld.
Flirrende Linien überall! Folgt das Auge den horizontalen Linien oder bleibt es an der Figur haften? Ausgehend von Collagen aus unterschiedlich liniertem Fotopapier, beginnt Vasarely seine Untersuchungen anhand des Positiv-negativ-Prinzips der Fotografie.
Er legt einen positiven und einen negativen Film von fotografierten Zeichnungen übereinander. So erscheint die Fläche zunächst einheitlich schwarz. Durch leichtes Verschieben nehmen die Linien vibrierende Gestalt an. Diese Strukturen überführt er, etwa bei „Meandres“, auf die Leinwand.
Die Linien geraten in Bewegung: Vasarely überträgt seine schwarzen Linienzeichnungen auf transparente Plexiglasplatten und stellt diese mit etwas Abstand dazwischen auf. Bewegt sich der Betrachter vor den sogenannten Kinetischen Tiefenbildern, verändern sich die Strukturen.
Bei meinen kinetischen Tiefenbildern spielt der sich bewegende Betrachter die wichtigste Rolle. Wenn er sie von einem festen Standpunkt aus betrachtet, so sieht er nur zwei Formen, die sich wegen der Durchsichtigkeit der Tragflächen überlagern. Sobald er sich aber bewegt, sobald er nach vorne geht, zurückschreitet oder an dem Bild vorbeiwandert, verändert es sich unaufhörlich, die emotionalen Schocks folgen einander ohne Unterlaß, und das Werk beginnt zu leben, sich visuell zu diversifizieren.
Jean-Louis Ferrier, Gespräche mit Victor Vasarely Spiegelschrift 8, Köln 1971, S. 76
Tatsächliche oder optisch hervorgerufene Bewegung? Alexander Calder fertigt Mobiles, die sich durch einen Luftzug verändern. Jean Tinguelys Plastiken werden durch Mechaniken aktiviert. Vasarely hingegen arbeitet mit rein visuell wahrnehmbaren Bewegungen, die durch verschiedene Reizungen des Auges ausgelöst werden. Seine Gedanken zur kinetischen Kunst (griech., kinesis, Bewegung) veröffentlicht Vasarely 1955 im „Gelben Manifest“.
Die Geburt
der Op-Art
Wie der nächtliche Sternenhimmel beginnt auch Vasarelys Kunst vor dem Auge des Betrachters zu flimmern. Es ist die Geburt der Op-Art.
In einem Werkstattbuch versammelt Vasarely kleine Skizzen aller seiner Werke. Die Durchsicht regt ihn immer wieder zu spannenden Weiterentwicklungen an. Das flächige schwarz-weiße Muster eines 1935 gemalten Schachbretts überführt der Künstler in die visuelle Dreidimensionalität. Hierfür bläht er die gleichförmigen Quadrate mal auf, mal verkleinert er sie.
Werden gleichmäßige Strukturen in ihren Formen verändert, wirken sie räumlich. Eine flächige Wahrnehmung ist nicht mehr möglich. Vasarely führt diese Form des Sehens bis an die visuelle Schmerzgrenze.
Mit der Serie Vega kehrt Vasarely Anfang der 1960er-Jahre zurück zur Farbe. Er läutet damit den Beginn der Op-Art ein. Vasarely nutzt das Spiel mit verschiedenen Größen, Helligkeits- und Farbwerten, um den Effekt der Räumlichkeit zu verstärken.
Pulsieren und vibrieren: Was Vasarely in den 1960er-Jahren mit dem Pinsel auf die Leinwand gebracht hat, erinnert stark an die computergenerierte Ästhetik der Gegenwart. Bis heute nutzen Werbegrafiker und Spieledesigner visuelle Effekte dieser Art. Sie animieren Strukturen und Muster auch digital.
Vasarely hat die Möglichkeit der Programmierung seiner Werke am Computer zwar schon mitgedacht - sich aber bewusst für die Malerei entschieden. Er macht Computerkunst, ohne einen Computer zu verwenden.
Kunst
für alle!
Jeder soll von einem künstlerisch gestalteten Umfeld profitieren. Vasarely arbeitet daher an einem System, das von allen Menschen anwendbar sein soll.
Vasarely entwickelt die Gedanken von Bauhaus und De Stijl weiter. Er erschafft ein einfaches, übertragbares System, das universell verständlich ist und so die umfassende Verbreitung seiner Ästhetik in allen Lebensbereichen ermöglicht.
Wir können ja den Kunstgenuß nicht auf alle Ewigkeit einer Elite von Kennern überlassen.
Notes pour un manifeste in: Vasarely, Einführende Worte von Marcel Joray, Entwurf und Layout von Victor Vasarely, Éditions du Griffon Neuchatel, 1965, Bd. I, S. 64/65
Es wird Vasarelys wichtigste künstlerische Erfindung: Sein „Plastisches Alphabet“ soll auf die Bedürfnisse der Gesellschaft reagieren. Erneut dient das Quadrat als Basis. Es wird mit jeweils einer anderen geometrischen Grundform kombiniert: mit Kreis, Ellipse, Rechteck, Raute oder Dreieck. Mithilfe von sechs vorgegebenen Grundfarben werden die Elemente schließlich in verschiedenen Nuancen kontrastreich gestaltet. Dieses Grundmodul bezeichnet er als „plastische Einheit“.
Ähnlich den Buchstaben des Alphabets eröffnen die „plastischen Einheiten“ schier unendliche Kombinationsmöglichkeiten zur Erschaffung von Kunstwerken. 1963 lässt Vasarely sich seine Idee patentieren.
Vasarelys großes Interesse an den Naturwissenschaften bestimmt sein künstlerisches Schaffen. In seinem Atelier gehen Forscher und Wissenschaftler ein und aus. Davon inspiriert, vergleicht er sein „Plastisches Alphabet“ immer wieder mit einem Atom: Wie Elementarteilchen die zentralen Bausteine der Atome sind, so ist das Plastische Alphabet der Baukasten für Vasarelys Kunst.
„Schaffen Sie ihren Vasarely!“
Die Anleitung zu Vasarelys „Plastischem Alphabet“ gleicht einer Partitur, in der die einzelnen zu spielenden Noten eines Musikstücks vorgegeben sind.
Der Künstler beschäftigt in seinem Atelier inzwischen mehrere Mitarbeiter. Sie führen auch die zahlreichen Gemälde des „Plastischen Alphabets“ aus, die zuvor von Vasarely mithilfe eines festgelegten Zahlensystems entworfen worden sind. Da der Künstler die Ausführung nicht mehr selbst übernehmen muss, können die Werke effizient reproduziert werden – die sogenannten „Multiples“ entstehen.
Gleichzeitig entwickelt sich in Europa und Amerika die Konzeptkunst. Idee und Ausführung eines Werks werden hier klar voneinander getrennt. Der Künstler liefert dabei die Anleitung, deren Umsetzung jedoch häufig nicht konkret festgelegt wird. Sie kann von einer beliebigen Person übernommen werden. Vasarely greift diesen Ansatz in seinem „Plastischen Alphabet“ auf: 1969 bringt er einen verkäuflichen Baukasten auf den Markt, der auffordert: „Schaffen Sie ihren Vasarely!“
Hier handelt es sich nicht um Malerei! Die einzelnen Elemente bestehen aus Kunststoff. „Lacoste-W“ ist eine Weiterentwicklung auf Grundlage des „Plastischen Alphabets“. Es zeigt eine der vielen Variationsmöglichkeiten, die das einfache System bietet.
Unter dem Titel „Folklore Planetaire“ präsentiert Vasarely 1963 das „Plastische Alphabet“ erstmals der Öffentlichkeit. Im Pariser Musée des Arts Décoratifs, dem Museum für Kunstgewerbe, werden schnell die vielfältigen Möglichkeiten dieses Systems deutlich: Neben Gemälden und Druckgrafiken gestaltet Vasarely auch Tapeten, Stoffe oder Möbel.
1972 ist Victor Vasarely auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Seine Kunst ist allgegenwärtig, und er arbeitet für große Unternehmen. Im Speisesaal der Deutschen Bundesbank in Frankfurt realisiert er gemeinsam mit seinem Sohn Yvaral ein Gesamtkunstwerk. Das Farbkonzept aus Gelb, Gold, Grau und Silber durchzieht den gesamten Raum. Die silbernen runden Scheiben formieren sich zu einer kinetischen Wand, die vor dem Auge des Betrachters zu vibrieren beginnt, sobald er den Raum durchschreitet. Lichteinfall, Reflexionen und das Zusammenspiel der Materialien tragen ihr Übriges dazu bei.
Das unerhört ungerechte Vergessen, in das er stürzte, ist ein Beweis dafür, dass es beinahe unmöglich ist, bei den elitären Fachleuten angesehen zu bleiben, wenn man populär wird.
Francois Morellet interviewt von Catherine Francblin in „Art cinétique: la sortie du purgatoire”, in: Art Press 314, Juli-August 2005, S. 28
Über mehr als sechs Jahrzehnte hinweg erstreckt sich Victor Vasarelys künstlerisches Schaffen. 1906 geboren, erlebt, prägt und verarbeitet er die unterschiedlichsten Stile und Einflüsse der Zwischenkriegs- und Nachkriegsmoderne. Er kann heute als eine der zentralen Künstlerfiguren des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt werden, dessen Bildsprache in zahlreichen Bereichen nach wie vor Anwendung findet.
Mit der rasanten Verbreitung seiner Multiples war Victor Vasarely allgegenwärtig. Doch die Popularität machte sie auch im Überdruss verfügbar. Mit seinem Erfolg wurde Vasarelys Kunst alltäglich – was tragischerweise zum Verlust ihrer Einzigartigartigkeit führen muss. Als er 1997 starb, hatte sich die Popularität von Vasarely als auch der Op-Art überlebt. Die umfangreiche Retrospektive im Städel Museum rückt Vasarelys malerisches Schaffen in den Vordergrund. Dabei begegnet man nicht nur einem vollkommen anderen und komplexeren Künstler, sondern es eröffnet sich auch ein neuer Blick auf die Moderne des 20. Jahrhunderts.
Geheimtipp
Aus 2D wird 3D, aus Bildern werden Skulpturen, aus Quadraten werden Würfel.
Vasarelys Gemälde spielen mit der Wahrnehmung von Dreidimensionalität. Das Erlebnis der Op-Art dehnt sich auf den Raum aus. Vasarelys Skulptur ist tatsächlich aus zahlreichen Perspektiven erlebbar. Beim Umschreiten ergibt sich mit jedem Schritt ein neuer Eindruck. Nun gilt es, die optischen Effekte und Lichtspiele in der Ausstellung zu entdecken und sich selbst in die Irre führen zu lassen!